Ein hoch aktuelles Psychogramm über Arbeitssucht, Entfremdung und die dunklen Abgründe der modernen Leistungsgesellschaft

Schattenmann arbeitet in einem Berliner Großraumbüro. Schattenmann lebt für seinen Job. Aber manchmal hat Schattenmann Aussetzer. Dann gibt es Probleme.

Was bleibt von dir, wenn Arbeit das Einzige ist, das dich definiert – und dann verschwindet?

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Leseprobe

Level 1

Gleich bricht mir das Gehirn auseinander. Das kommt vom Nachdenken. Ich denke immer zu viel und das immer auf einmal. Ich, das heißt: Schattenmann. So ist mein Name. Angestellt bei der Kronos Consulting GmbH; Kronos, wie der Gott, der seine Kinder verschlingt. Wir sind hier, weil der Gott des Unternehmens uns gerufen hat.

Mein erster Gedanke war, dass es sich um einen Fahnenappell handelt. Alle antreten, Marsch, Marsch, zack, zack, schneller, schneller. Offiziell ist es eine außerordentliche Mitarbeiterversammlung, kurzfristig angesetzt. Das schmeißt natürlich die Gerüchteküche an. So stehen wir hier in der Cafeteria des Unternehmens und wissen nicht, was uns erwartet. Die Leute tuscheln, sie wirken nervös, Lämmer, die auf dem Weg zur Schlachtbank sind.

Ich lasse mich von der Nervosität anstecken, fummele unruhig an meinen Händen herum. Dabei blicke ich nach vorn zur Bühne. Dort baut sich der Geschäftsführer auf, weißhaarig, das Gesicht kantig geschnitten, er sprüht vor Glanz und Gloria. Seine Aura bringt auch mich zum Glühen, das gespannte Erwarten macht mich fertig, ich halte es kaum noch aus. Eine Versammlung zum Jahresauftakt ist in vielen Firmen ein festes Ritual – und selten beliebt bei den Angestellten, denn selten bedeuten sie etwas Gutes.

„Weißt du, was das hier soll?“

Ich stubse Carla neben mir an. Carla Westerhaus, die Abteilungsleiterin. Sie schüttelt den Kopf. Dann nimmt sie einen großen Schluck Kaffee aus dem Firmenbecher in ihrer Hand. Ich sehe Carla selten ohne Kaffeebecher.

„Bei so viel Kaffee wirst du noch dement“, flüstere ich.

Wir kennen uns lange genug, dass ich mir diesen Scherz erlauben darf. Und natürlich duzen wir uns. Das ist gang und gäbe bei der Kronos Consulting GmbH, obwohl man nur einen Bruchteil der rund 500 Angestellten tatsächlich beim Namen kennt. Wie aus Trotz auf meine Bemerkung nimmt Carla einen Schluck.

„Manchmal würde ich mir das wünschen.“

Sie reckt den Kopf, um besser sehen zu können. Ich folge ihrem Blick. Ganz vorne reihen sich die kahlen Häupter aneinander, die Chiefs und Officer. Ich zücke mein Mobiltelefon und rufe die Firmenhomepage auf, scrolle mich durch das Personaltableau. Unser Team heißt es da. Da sehe ich die Gesichter zu den Hinterköpfen. Sie lachen mich mit ihren haarlosen, bebrillten Gesichtern an. Ganz oben steht der Group Chief Executive Officer, das Alphatier. Um ihn herum gruppiert sich sein Rudel, die Leitwölfe für Finanzen, für Technik, für PR, für Humanressourcen. Etwas versetzt ist der Freakshow-Manager abgebildet, der hochtrabend für „Audience Development & Conversion“ zuständig ist. Es gibt noch weitere, die solche Titel tragen, auch Carla gehört dazu. Als einzige Frau hebt sie sich deutlich von dieser Managerriege ab. Auf ihrem Bild lächelt sie selbstbewusst in die Kamera. Die Ränder ihrer Brille laufen an den Ecken spitz zu. Sie erinnert mich an die Brillen, die Frauen in den alten Rockabilly-Filmen häufig tragen.

Ich stecke das Handy wieder weg. Für mich ist auf der Firmenhomepage kein Platz. Ich gehöre zu den Angestellten, die keinen Titel tragen, wie all die anderen, die sich hier die Beine in den Bauch stehen. Unsere Existenz lässt sich unter dem Begriff Büroangestellte der 2020er-Jahre zusammenfassen. Von denen gibt es in Berlin jede Menge. Um die 800.000 habe ich einmal gelesen, knapp 40 Prozent aller Beschäftigten in der Hauptstadt. Sie alle müssen sich solche Reden wie die des Geschäftsführers in diesem Moment anhören. Er spricht von wir und uns, alter Rhetoriktrick, leicht zu durchschauen. Er variiert das Tempo und die Lautstärke immer so, dass die Aufmerksamkeit nicht abbricht. Er weiß, wie man das macht. Wahrscheinlich ist er deshalb das Alphatier. 

Mir fällt ein Kollege zu meiner Seite auf. Die Worte des Geschäftsführers begleitet er mit einem Dauernicken. Jeden englischen Angeberbegriff kommentiert er mit einem: Nice.

„State of the art“ – Nice!

„Performance“ – Nice!

„Output“ – Nice! 

„Workflow“, „traffic“, „results“, „purpose“ – Nice! Nice! Nice! Nice! 

Der Typ kriegt sich kaum ein. Ich stelle mir vor, wie er seinen Pimmel rausholt und abwichst. Jetzt denke ich: Nice. Auch der Geschäftsführer kommt zunehmend in Fahrt und steuert dem Höhepunkt seiner Rede entgegen:

„Wir sitzen alle im selben Boot und wir müssen gemeinsam dafür sorgen, dass dieses Boot wieder flott wird“, ruft er predigerhaft über die Köpfe hinweg. Mit den Händen formt er ein Schiffchen. Er hält die Luft an. Kunstpause. Wie abgegriffen ist das denn? Dann atmet er aus und bläst damit die gesammelte Belegschaft um.

„Aber es ist so, dass in einem Boot along the way auch manche über Bord gehen.“

Plötzlich herrscht Stille. Damit hat keiner gerechnet. Die Worte treffen wie ein Faustschlag in den Unterleib. Alle sind schockgefroren. Nicht einmal zu räuspern wagt sich jemand. Der Geschäftsführer blickt in eine Schar offener Münder. Er grinst.

„Jeder und jede Einzelne stehen deshalb auf dem Prüfstand, alle in diesem Unternehmen müssen zeigen, dass sie ihren Posten zurecht innehaben, dass sie hier arbeiten wollen, dass sie heiß sind und brennen wie ein Vulkan.“

Nun ist er in Rage, er schaukelt sich hoch, an seiner Stirn schwillt eine Ader, die blau leuchtet auf seinem hochroten Kopf unter dem schlohweißen Haar. Was für ein Farbenspiel.

„Wir wollen, dass der Funke von einem auf den anderen überspringt, wir wollen, dass ihr wieder brennt für eure Aufgaben, dass das Unternehmen vor Eifer sprüht. Ich weiß, wozu ihr in der Lage seid, ihr wisst es nur selbst noch nicht.“

Die Versammelten schweigen. Nur Blicke werden getauscht. Unsicher. Fragend. Der Geschäftsführer kann das nicht übersehen.

„Ihr müsst nicht zweifeln, ihr müsst nur wollen“, spricht er uns Mut zu. Die ersten Köpfe nicken. Zustimmung. Ja, that’s the spirit, das sei die richtige Einstellung, kommentiert er und ballt dabei die Fäuste, als wolle er den Mut aus uns herauspressen.

„Na los, ich will es hören! AUF GEHT’S!“, brüllt er und wirft die Faust in die Höhe. Dutzende Fäuste folgen ihm. „AUF GEHT’S“, wiederholt er seinen Schlachtruf, diesmal noch lauter, wodurch der Speichel aus seinem Mund spritzt. Die Belegschaft enttäuscht ihn nicht. Mit Inbrunst schallt es zurück. Wer noch gezögert hat, lässt sich anstecken. Noch mehr Fäuste recken sich in Richtung Decke. Dahinter gehe ich in Deckung. Was das bedeuten soll, will ich von Carla wissen. Eine steile Falte hat sich zwischen ihre Augen gegraben. Ihr Gesicht kommt mir vor wie eine steinerne Maske. Genauso hart wie ihr Blick trifft mich ihre Antwort.

„Nichts Gutes.“

 

© Sebastian Garthoff. Alle Rechte vorbehalten.

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